Presse – Jazzthing 2014

Jazzthing 11/2014

Addys Mercedes – Zug zwischen zwei Welten

Der Rhythmus, mit dem das neue Werk der Kubanerin Addys Mercedes beginnt, erinnert an eine schlurfende Cumba, doch man kann sich genauso gut eine schnaufende Lok vorstellen. Und tatsächlich heißt das Titelstück der CD „Locomotora a Cuba“ (Media Luna / Indigo).

Nostagische Erinnerungen an die Kindheit der Wahl-Essenerin? „Meine Locomotora ist ein fiktiver Zug, der meine Welten in Kuba und Europa miteinander verbindet“, so Mercedes. „Auf dieser Reise zeige ich meinen Freunden von hier mein Kuba, von dem sie so viele Vorstellungen haben – aber selbst wenn sie in Kuba Urlaub machen, schaffen sie es nicht, es mit meinen Augen zu sehen und mich zu verstehen. Und auf dem Rückweg nehme ich meine Familie und Freunde aus Kuba mit auf einen Kurztrip nach Europa, um ihre Neugierde zu stillen.“

Von diesem Wechselbad der Kontinente bezieht ihre vierte Scheibe die kreative Spannung. Da geht es mal ganz rockig zur Sache, etwa in der ausgelassenen Single „Rompe el Caracol“, ein spielerischer Reggae wird gezückt, wenn sie die Seifenkistenrennen ihrer Jugend rekapituliert, oder es wird sehr balladesk, wenn sie von den Träumen singt, die festgehalten werden sollen.

Und oft fällt im kompakten Klangbild eine zarte und doch selbstbewusste Violine auf, die auch mal in den luftigen Charangastil entführt, der heutzutage in Kuba zugunsten von Timba und anderen aktuellen Trends in den Hintergrund geraten ist. Die Geigentöne kommen von der erst 13-jährigen Tochter der Sängerin: „Lia hat lange nur klassische Geige gespielt, aber als sie dann bei Proben mit uns improvisiert hat, lernte sie die Charangarhythmen kennen. Durch sie ist dieser Einfluss in meiner Musik viel stärker geworden.“

Aus der neuen Heimat heraus konnte Mercedes eine neue, freie Musik schöpfen, die in der männerdominierten Szene Kubas so nicht möglich gewesen wäre. Dort lässt sich immer noch in erster Linie mit Touristenmusik richtig Geld verdienen. In Deutschland hat sie die Tradition entdeckt, ohne ethnomusikalische Forschung betreiben zu wollen, und bereichert ihre Songs gleichzeitig durch Einflüsse bis in die Klassik hinein. „Meine Musik wäre in Kuba unmöglich entstanden, aber ohne Kuba undenkbar“ – so formuliert sie ihr Paradoxon.

Stefan Franzen

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